23. Dezember – Zeit zum Lesen

Das heutige Türchen wird von Sebastian geöffnet, der seit etwas über einem halben Jahr mal mehr, mal weniger auf seinem Blog „Teach. Eat. Travel.“ aktiv ist. Wir kennen uns aber schon ein Jahr länger, weil er mit meiner großen Schwester zusammen ist und wir uns auch so öfter treffen. Deswegen war klar, dass ich ihn auf jeden Fall frage, ob er Lust hat, an dem Adventskalender teilzunehmen – und das hatte er zum Glück :)

Auf seinem Blog findet ihr diverse Berichte, vor allem über seine vielen Reisen, zum Beispiel nach London und Prag, oder über kulturelle Veranstaltungen wie Theatervorstellungen, Lyrikertreffen oder aber  das Münsteraner Bierfest. Ab und zu findet ihr auch Rezepte, ihr solltet auf jeden Fall mein Lieblingsrezept, den Schokokuchen zum Geburtstag meiner Schwester, anschauen :D Auch lesenswert – ein Bericht über seine Studierenden im Knast! Heute schreib Sebastian über Bücher. Vielen Dank für deinen tollen Gastbeitrag, Sebastian – wir sehen uns die Tage unter’m Weihnachtsbaum!!..


Liebe Laura,

vielen Dank für die Gelegenheit, ein Teil deines Adventskalender-Achtsamkeits-Blog-Experiments sein zu können. Als du mir von deiner Idee erzählt hast, habe ich – ohne groß darüber nachzudenken – sofort zugesagt. Ich fing also an zu grübeln: Was könnte ich beitragen? Bald wurde mir klar: Ich war 2017 nicht besonders achtsam. Ich war selten im Hier und Jetzt. Ich habe oft nicht im Moment gelebt. Im Gegenteil: Das Jahr ist viel zu schnell vergangen, ohne dass ich übermäßig viel davon bewusst wahrgenommen hätte. Natürlich gab es trotzdem eine ganze Menge schöne und bereichernde Momente und Situationen, die einzigartig sind und für die ich sehr dankbar bin. Dazu gehören für mich (neben vielem anderen) auch Romane, die mir helfen abzuschalten, die Welt auszublenden und in eine andere einzutauchen. Vielleicht ist das nicht Achtsamkeit im eigentlichen Sinn, aber Lesen ist eine Gelegenheit sich zu entspannen, runterzufahren und ganz nebenbei noch ein wenig über das Leben nachzudenken, ohne dabei das eigene in den Mittelpunkt der Überlegungen rücken zu müssen. Daher möchte ich für deinen Adventskalender drei Romane vorstellen, die mich dieses Jahr begeistert haben und die sich natürlich auch super als Weihnachtsgeschenk (und zur Steigerung der Achtsamkeit!) eignen.

Elena Ferrante: „Meine geniale Freundin“ (Suhrkamp, 2016)

Italien, Neapel, die 1950er Jahre. Lila und Elena (die Erzählerin der Geschichte) sind zwei Mädchen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die eine ist wild und ungestüm, die andere fleißig und sensibel. Die beiden verbindet ein Alltag, der geprägt ist von Armut, Gewalt und traditionellen Geschlechterrollen. Und beide suchen nach einer Perspektive, finden ihren jeweils eigenen Weg und scheitern letztendlich. Das kann man sagen, ohne allzu viel vorwegzunehmen. In Ferrantes Roman geht es nämlich weniger um das Ergebnis, sondern um den Weg dahin. Dabei thematisiert sie nicht nur den Wert von Bildung, von Freundschaft, von Familie, sondern auch politische Fragestellungen der Zeit und gibt so einen Einblick in das Dilemma eines Landes, das wir nur allzu gerne als romantisches Urlaubsparadies verklären. Das klingt möglicherweise zunächst recht spannungsarm und trostlos, jedoch war ich als Leser sofort fasziniert von den vielschichtigen Figuren, der bildgewaltigen Sprache und vor allem von dem immensen Detailreichtum. Hier kann man in eine fremdartig anmutende Zeit abtauchen und ist traurig, wenn man die Welt der Figuren wieder verlassen muss. Kaum ein Roman schafft es besser, in minutiöser Genauigkeit zu beschreiben, zu beobachten, zu diagnostizieren und dabei ein Gefühl für eine Zeit und ein Milieu zu erzeugen, ohne auch nur eine Sekunde zu langweilen. Übrigens: Ferrantes Roman ist Teil eines ganzen Zyklus; der vierte Teil erscheint im Februar auf Deutsch.

Liu Cixin: „Die drei Sonnen“ (Heyne, 2016)

Zugegeben, Science-Fiction ist nichts für jeden. Und die chinesische Literaturszene hatte es bisher auch noch nicht in mein Bücherregal geschafft. Aber keine Sorge, Lui Cixins Roman geht ganz eigene Wege und ist sicher das Verrückteste, was ich dieses Jahr gelesen habe. Worum geht’s? Im China der 1960er Jahre, der Zeit der Kulturrevolution, entsteht eine strenggeheime Forschungsgruppe, die es sich zur Aufgabe macht, Signale ins All zu senden, um mit Außerirdischen Kontakt aufzunehmen. Dazu gibt es einen weiteren Handlungsstrang, der die Konsequenzen dieser Forschung in einer fiktiven Gegenwart aufzeigt, inklusive einem drohenden interplanetaren Krieg. Das hört sich erstmal nach Sci-Fi-Kitsch an, ist aber alles andere als das. Die Spannung entsteht durch das Nicht-Wissen, durch die aufkommenden Zweifel an der Allmacht der Wissenschaft, durch die Vermischung von Realität und Fiktion. Man muss sich auf diesen Roman einlassen können und wollen – hat man das einmal geschafft, wird man reichlich

dafür belohnt. Besonders faszinierend sind die Figuren, deren Schicksale elegant miteinander verwoben werden. So zum Beispiel der Nanotechnologie-Professor Wang, der eigentlich bei der Aufklärung verschiedener Morde an Wissenschaftlern helfen soll, sich zusehends in einer virtuellen Welt verliert, fast verrückt wird und schließlich eine Entdeckung macht, die die Zukunft der Menschheit für immer verändern kann. Und wenn sogar Barack Obama begeistert ist, kann man eigentlich nichts falsch machen.

Joachim Meyerhoff: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ (Kiepenheuer & Witsch, 2015)

Der bereits vor zwei Jahren erschienene letzte Teil einer Roman-„Trilogie“, den man wohl am ehesten als autobiographical memoir novel bezeichnen könnte, weckte aufgrund seines unkonventionellen Titels mein Interesse. Der klingt nach Verlust, nach Leere, nach Einsamkeit – und genau darum geht es auch. Allerdings ist der Text zum Schreien komisch, beim Lesen musste ich das Buch mehrfach weglegen, um herzlich zu lachen. Meyerhoff, der im echten Leben hauptberuflich Theater-Schauspieler ist, erzählt von seinem Leben bei seinen Großeltern und dem Weg durch die Ausbildung an der Otto-Falkenberg-Schule in München, einer Kaderschmiede für junge Schauspieltalente. Dort wird er tagsüber immer wieder physisch und psychisch an seine Grenzen getrieben, muss abstruse Lehrmethoden über sich ergehen lassen und setzt sich mit schrulligen Kommilitonen auseinander. Abends betrinkt er sich exzessiv mit den Großeltern (sie Schauspiel-Diva, er emeritierter Philosophieprofessor), die körperlich und geistig mehr und mehr abbauen und in ihrer gutbürgerlichen Gemütlichkeit den Tag in alkoholische Getränke gegliedert haben: der Champagner zum Frühstück, Rotwein zum Mittagessen und natürlich der allabendliche Whisky vor dem Zubettgehen. Was ziemlich nach Klamauk klingt, hat aber noch eine zweite Ebene. Meyerhoff reflektiert ganz nebenbei noch die wirklich wichtigen Fragen des Lebens: Wer will ich sein und was bin ich bereit dafür zu tun? Wie kann ich Frustration ertragen und dabei trotzdem funktionieren? Wie gehe ich damit um, wenn geliebte Menschen sich schleichend verabschieden? Es ist genau diese tragisch-komische Gemengelage, die den Roman zu einem sehr kurzweiligen Lesevergnügen macht.

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